Hallo liebe Schüler und Ausbilder!
In Corona-Zeiten habe ich mehr Muse und Möglichkeit, auf die ein oder andere Frage einzugehen, die mir ab und zu gestellt wird.
Die Frage: Wie und was glaubst Du, sollte man heutzutage trainieren, um auf der Straße einigermaßen bestehen zu können?
Diese Frage stellte mir ein Interessent, der es in Erwägung zieht, nach der Corona Zeit bei mir anzufangen.
Diese Frage lässt ein Statement zu, welches über mehrere Seiten gehen könnte. Ja man könnte ein kleines Taschenbuch darüber schreiben. Ich versuche, es so komprimiert wie möglich zu halten.
Die allgemeine Kampfsport - respektive Selbstverteidigungszene - hat sich in den letzten 20-30 Jahren geändert. Ich habe Wing Tsun angefangen, als es noch kein Krav Maga, MMA, UFC usw. gab. Damals war Wing Tsun wegen der Trainingsmethoden und der Art und Weise des Trainings durchaus führend in der Welt der realen Selbstverteidigung. Die kompromißlose Art und die Aggressivität, mit der dieses System bekannt wurde, toppte damals vieles auf dem Kampfsport-Markt.
Auch für mich selbst, der zunächst 12 Jahre lang bei den Amerikanern in Mannheim boxen lernte und später aus pragmatischen Gründen (wegen der Kicks) zusätzlich das Muay Thai bzw. Kickboxen mit einbezog, war der erste Wing Tsun-Lehrgang ernüchternd. Eine völlig neue Art des Kämpfen tat sich auf, was mich recht schnell überzeugte.
Dabei muss ich erwähnen, dass ich von Beginn an die damals besten Leute in der EWTO kennenlernte und diese natürlich außerordentlich beeindruckend waren. Und an diesen Leuten orientierte ich mich. Thomas Mannes (mein späterer Lehrer), Emin Boztepe, Salih Avci, Klaus Dingeldein, Osama Sabri usw. waren richtige "Hauer", die auch ohne Wing Tsun bestimmt nicht schlecht gewesen wären und alle aus anderen Kampfsportarten kamen. Das war einer der entscheideneden Faktoren. Sie alle wussten bereits vorher, wie man was trainieren musste, um richtig gut zu sein.
Im Laufe der Zeit veränderte sich die Szene. UFC, MMA entwickelte sich relativ schnell und wurde zum Inbegriff des Kämpfens. Was diese Leute bis heute auszeichnet, sind Trainingshärte und Nehmerqualitäten. Das Vermischen verschiedener Systeme, Thai-Boxen, Brazilian Jiu Jiutsu, Luta Livre etc. setzt den Maßstab des sportlichen Kämpfens. Wing Tsun in seiner traditionellen Art der Vermittlung geriet dabei immer mehr ins Hintertreffen, was die propagierte Tauglichkeit anbelangt. Woran lag das?
Die EWTO (mit ihrem Leader Kernspecht) -aus der die meisten Wing Tsun-, Ving Chun-, Ving Tsun-, Wing Chun- Richtungen hervorgingen-wurde von allen als organisatorisches Vorbild betrachtet. Die Expansion dieses Verbandes in den 90er Jahren, zeigte jedem in dieser Branche, wie mit dieser Form des "Geschäfte machens" Geld zu verdienen ist. Je mehr Mitglieder, desto lukrativer. Es kamen nun nicht nur ehemalige Kampfsportler in die Wing Tsun-Schulen, sondern immer häufiger "normale" Leute, die zuvor keine Ahnung von realen Auseinandersetzungen hatten und sich auf Grund der cleveren Werbeversprechungen erhofften, auf diesem Weg zum "unangenehmen" Fighter zu werden. Das Publikum im WT veränderte sich zusehends. Geschäftsleute, Bänker, Hausfrauen usw. machen in der Zwischenzeit die hauptsächlichen Schüler aus. Dementsprechend ergab sich schleichend eine Art des Trainings, das einer Vorbereitung auf die Realität einfach nicht mehr gerecht wurde. Spaß musste es machen, Technikverliebtheit entstand und das Programm wurde mehr und mehr "gestreckt" um die "netten Menschen" möglichst lange an sich zu binden. Gewinnmaximierung und Lifstyle stand im Vordergrund und nichts anderes mehr.
Cut!
Ich glaube, dass Wing Tsun - richtig trainiert - mit anderen positiven Ergänzungen versehen, ein gutes System ist, um sich auf eine mögliche Realsituation vorzubereiten. Im Gegensatz zu MMA z.B. müssen wir tatsächlich die regellose Komponente trainingstechnisch hervorheben. Eine spezielle Form des Sparrings (nicht kooperativer Partner) mit Kontakt ist ein Muss! Waffen spielen eine immer größere Rolle und müssen mit Sparringsszenarien Beachtung finden. Verhalten am Boden, Verhalten gegen mehrere Angreifer mit realistischer Einschätzung der Möglichkeiten und der dadurch entstehenden Strategie ist unbedingt notwendig. Trainieren der Techniken in Realgeschwindigkeit ist anzustreben. Nur so kann man die "Machbarkeit" entdecken und einschätzen. Chi-Sao muss am Ende durch relitätsnahe Übungen entwickelt und nicht bis zur Endlosigkeit in Sektionen "verhaftet" werden. Wing Tsun (ca.70%) ergänzt mit Thai-Boxen, Bodenkampf und Escrima stellen einen guten Mix dar, um auf die heutigen Bedürfnisse eine Antwort zu geben. Aber nichts von dem ist etwas Wert, wenn es metodisch nicht hart und unermüdlich trainiert wird. An eine mögliche technische Überlegenheit, darf nicht nur unrealistisch "geglaubt" werden, sondern sie muss so real als möglich trainiert werden. Trefferwillen (ohne Verletzungswillen!) ist "normal" und keine "Graduierungsblamage". Ich bin überzeugt davon, dass wir mit modernen Errungenschaften zurückkehren müssen zum guten alten "Old School" Wing Tsun!
Euer Sifu Henry Müller